Nicht selten wurden die Kriegszerstörungen dabei als „tabula rasa“, als Vorbereitung eines lang gewünschten Stadtumbaus gesehen. Das gilt auch für Krefeld. Der Vagedes-Plan wird zwar nach dem Krieg als erhaltenswürdig eingeschätzt. Aber der aufgelockerte Städtebau der Moderne hat die Struktur der Krefelder Stadtanlage zumindest im Norden der Innenstadt räumlich unlesbar gemacht. Dabei hat die Wiederentdeckung des historischen Stadtgrundrisses, der seit der Aufbauphase verloren schien, bereits seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts den Städtebau wieder entschieden gewandelt. Initiatoren waren unter anderem Josef Paul Kleihues (1933 – 2004) und die Internationale Bauausstellung Berlin.25 In den Jahren 1984/87 haben sie mit ihren innerstädtischen Wohnungsbauprojekten in der südlichen Berliner Friedrichstadt gezeigt, wie Stadt auf historischem Grundriss neu gestaltet werden kann. Die Lesbarkeit des Stadtraumes durch die Disziplin von historischer Bauflucht und Baublock schaffen (neue) Identität. Sie füllen das Vakuum der verloren gegangenen historischen Architektur.
Nachdem in den 70er Jahren in Deutschland ein Bewusstsein für das historische Baudenkmal entstand, wurde der historische Stadtgrundriss in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts für den Städtebau wieder entdeckt. Die Lesbarkeit des Stadtraumes durch die Disziplin von historischer Bauflucht und Baublock schafft (neue) Identität und kann das Vakuum der verloren gegangenen historischen Architektur füllen. Die Wiederentdeckung des Stadtgrundrisses stellt auch in Krefeld ein enormes Potential für zukünftige Stadtentwicklung dar. Vagedes’ Stadtplan ist mehr als nur der Entwurf einer Stadterweiterung. Er ist Ausdruck einer ganz eigenen Stadtbaukultur, die bis in die oranische Zeit zurückreicht. In der Tradition der holländischen „Vielfalt in der Einheit“ und des preußischen „mehr Sein als Schein“ fügen sich einzelne Gebäude zu einem Ganzen, zu einer Stadtgestalt. Wenn auch der Wert von Vagedes‘ Stadtplan unangefochten war, so ist das Bewusstsein, dass innerhalb des klassizistischen Stadtgrundrisses die Klarheit des Strassenrasters und der Zusammenhang der Bebauung den Schlüssel zur Schönheit der Stadtanlage bilden, ist verschwunden. Bereits die Architektur der Gründerzeit hatte diesen Zusammenhang angetastet, die Architektur und Verkehrsplanung des Wiederaufbaus schließlich hat den Stadtraum aufgelöst.
Die Eingriffe aus der Nachkriegszeit sind unter den Vorzeichen des modernen Städtebaus nachvollziehbar, sie sind zeittypisch, aber nicht zeitlos. Mehr noch, sie werden heute als nicht mehr zeitgemäß erfahren. Angesichts einer Neubewertung der Innenstadt nicht nur als Einkaufs-, sondern auch als Wohn- und Kulturstadt, sowie des neuerwachten Interesses von Investoren, ist es wichtig, einen gemeinsamen Kurs für das Gebiet zu formulieren. „Ein solches Leitbild muss (…) zukunftsorientiert und herausfordernd sein, gleichzeitig aber auch umsetzbar“: eine „realistische Utopie“.26 Die Einzigartigkeit des Vagedes-Plans fragt dabei nach einer ganzheitlichen Lösung, nicht nach „Leuchttumprojekten“ und starken Solisten. Denn: „Es bleibt ein so häufiges wie gefährliches Missverständnis, städtebauliche Planung durch reine Architektur (insbesondere spektakuläre und große und teure Architektur) ersetzen zu können.“27
Der 200-jährige Vagedes-Plan ist Krefelds kulturelles Erbe und Potential für Stadtentwicklung zugleich. Das Gebiet zwischen den vier Wällen besitzt alle Qualitäten, die eine lebendige Innenstadt ausmachen: Es ist kompakt, kleinteilig in seiner Bebauung und Nutzerstruktur, und durchzogen von einem feinmaschigen Straßennetz. Nicht nur die vielen Brachen und Baulücken bieten dabei das Potential, den Stadtgrundriss wieder zu beleben. Auch und vor allem die größeren Investorenprojekte bieten die Chance, die räumliche Qualität und Lesbarkeit des Stadtgrundrisses wiederherzustellen, ja den öffentlichen Raum nachhaltig auf ein hohes Qualitätsniveau zu bringen. Es bedarf einer neuen Stadtbaukultur, in der vielen Einzelprojekten mit einer Reihe von klaren Regeln eine Richtung gegeben wird, die in der Summe den Wandel befördert. Mit der Idee des organischen Weiterbauens hatte Vagedes Vorhandenes in ein neues Ganzes gefügt. Zu seinem Jubiläum ist der Vagedes-Plan so aktuell wie 1819.
Text: Claudia Schmidt und Jürgen Stoye (Erstveröffentlichung: Die Heimat, Jahrgang 86, 2015)